Mein schwerstes Sechstagerennen

Von Walter Rütt

Seit fünfundzwanzig Jahren durchstreife ich die Welt als Rennfahrer. Seit fünfundzwanzig Jahren rollt vor meinem Auge ein Film mit sich überstürzenden Ereignissen und oft wird es mir schwer, die Ereignisse voneinander zu trennen. Ich kann mir oft erst nach längerem Nachdenken klar werden, wo und wann dieses oder jenes Ereignis meinen Lebensweg gekreuzt hat und welche Empfindungen mich im Augenblicke des Erlebens beseelt haben. Und doch heben sich aus der Fülle der Erinnerungen viele Ereignisse heraus. Oft sind es Kleinigkeiten, oft nur ein Wort oder ein Scherz, aber hoch über allen Erinnerungen stehen diese Dinge vor meinem geistigen Auge.

Wenn man fragt, welches mein schönstes Rennen gewesen ist, so müßte ich nachdenken, aber die Frage, welches mein schwerstes Rennen gewesen ist, könnte ich sofort beantworten. Ich habe viele 144-Stunden-Rennen diesseits und jenseits des Ozeans bestritten, ich habe unendlich viel in diesen Rennen erlebt und ich würde mich auf manche Einzelheiten entsinnen können, wenn ich meinen Vorsatz, ein Tagebuch zu führen, durchgesetzt hätte. Leider habe ich es nicht getan, aber die Antwort auf die Frage, welches Sechstage-Rennen mir am schwersten geworden ist, vermag ich dennoch zu beantworten: mein schwerstes Sechstage-Rennen war das New Yorker Sechstage-Rennen im Jahre 1910.

Schwer war der Entschluß, das Rennen zu bestreiten, schwer war die Überfahrt nach Amerika und schwer war das Rennen selbst. Als ich die Einladung zu dem Rennen erhielt, lag mein damals fünf Jahre alter Sohn Oskar in meiner Wohnung zu Friedenau an einer von den Ärzten zuerst nicht zu diagnostizierenden Krankheit darnieder. Der Junge schwebte zwischen Tod und Leben. Er gab alle Speisen wieder von sich, wurde von Tag zu Tag hinfälliger und magerte zum Skelett ab. Ich kämpfte mit mir einen schweren Kampf. Sollte ich mein Kind verlassen mit der Furcht im Herzen, es nicht mehr wiederzusehen, sollte ich zu Hause bleiben und auf das Rennen verzichten?

Es war ein schwerer Kampf zwischen Vaterliebe und Pflichttreue, in dem die Vaterliebe gesiegt haben würde, wenn mir nicht der Arzt eines Tages die Versicherung gegeben haben würde, daß eine Röntgenaufnahme Klarheit über die Krankheitsursache gebracht habe und die Wiederherstellung des kleinen Patienten in Derkurzer Zeit vor sich gehen könne. Nach dem Befund hatte mein Sohn einen Bluterguß in die Stirnhöhle erlitten und nach einem Verhör des Dienstmädchens stellte sich heraus, daß Oskar in unserer Abwesenheit mit der Stirn auf die Scheuerleiste des Eßzimmers gefallen war und seit diesem Fall gekränkelt hatte.

Obwohl Oskar noch sehr krank war, entschloß ich mich, den Vertrag für New York zu unterzeichnen. In Begleitung meines Partners Stol trat ich die Reise nach Paris an, von wo wir mit den europäischen Sechstage-Fahrern nach Havre reisten, um von dort die Fahrt über den großen Teich anzutreten. Unser Gepäck hatten wir aufgegeben und in wenig eleganten Reiseanzügen waren wir in Havre angekommen. Die Umkleidung sollte auf dem Schiffe vor sich gehen und in lustiger Gesellschaft warteten wir auf die Dinge, die da kommen sollten. Mich erfüllte die Sorge um meinen Sohn, aber bald sollte ich durch die Ereignisse abgelenkt werden.

Als wir zur Messagerie Maritime kamen, wurde uns eröffnet, daß die zur Überfahrt ausersehene "Bretagne" Schaden erlitten habe und ein anderer Dampfer gechartert werden solle. Dieser andere Dampfer war ein kleiner Kasten in ehrwürdigem Alter von etwa dreißig Jahren und mit einigem Mißtrauen gingen wir auf dieses Schiff. Unser Mißtrauen erwies sich als berechtigt. Als wir die offene See erreicht hatten, begann ein furchtbares Schlingern, Rollen und Schwanken und bald sah man keinen Passagier mehr an Deck. Ich zog mich in den Salon zurück und versuchte, die Seekrankheit zu bekämpfen, aber sie kam doch.

Floyd Mac Farland, USA

Foto: Otto Spenke, Köln

Der Amerikaner Floyd Mac Farland überredete Walter Rütt,
sich als Sechstagefahrer zu versuchen.

Während ich meinen Kampf mit der, zum Halse emporsteigenden Schlange kämpfte, hörte ich Stol schrecklich stöhnen und schreien. Ich ging in seine Kabine hinunter und führte ihn wie ein Kind an der Hand auf Deck, wo wir beschlossen, uns durch die Suche nach unserem Gepäck zu zerstreuen. Der Obersteward, dem wir unsere Wünsche vortrugen, verwies uns an den Gepäckmeister und dieser durchstöberte den Gepäckraum nach allen Richtungen, ohne etwas zu finden. In der Aufregung über das vergebliche Suchen hatten wir die Seekrankheit vergessen, aber unsere Laune war nicht besser geworden.

Wir ließen bei einem Schiff, das Havre eine Stunde vor uns verlassen hatte, funkentelegraphisch anfragen, ob es unser Gepäck mit sich führe und wir erhielten nach einer Stunde den Bescheid, daß sich nichts für Rüft und Stol an Bord befände. Nun telegraphierten wir an die Schiffahrtsgesellschaft in Havre, aber auch diese telegraphierte zurück, daß sie nichts finden könne. Was nun? Traurig zogen wir uns am Abend in unsere Kabine zurück und des Lebens ganzer Jammer schien uns angepackt zu haben, als wir nachts gegen 3 Uhr durch einen Stoß aufgeweckt wurden, der alle Sorgen um das verlorene Gepäck verscheuchte.

Das Licht erlosch, die Maschinen standen still und ein furchtbares Geschrei erfüllte die Luft. Ich lief auf Deck, wo ich gegen den drahtlosen Telegraphisten stieß, der mir seelenruhig erklärte, daß das müde Schiff sich auf eine, zum "Ozeanfriedhof" gehörende Sandbank gesetzt habe. Da das Schiff stillag und nichts auf ein Sinken hindeutete, wäre die Panik zu vermeiden gewesen, aber die Finsternis flößte den Passagieren um so größere Furcht ein, als sie die Seeleute daran hinderte, etwas zu unternehmen. Glücklicherweise war die Funkenstation heil geblieben und der Telegraphist entwickelte eine rege Tätigkeit. Ich tastete mich im Dunkeln vorwärts, um wieder in meine Kabine zu gelangen, als ich einen penetranten Spiritusgeruch wahrnahm.

Ich öffnete eine Tür und sah, wie eine Frau Spiritus aus einer Flasche goß, wobei ihr ein kleines Mädchen mit einem Talglicht leuchten mußte. Ich schlug dem Mädchen das Licht aus der Hand, um eine Explosion zu verhüten, worauf sich eine Flut portugiesischer Schimpfworte über mich ergoß. Mich weiter tastend, kam ich an die Kabine des Rennfahrers Nat Butler. Ich fand den Amerikaner und seine Frau betend vor. Beide waren davon überzeugt, daß ihre letzte Stunde gekommen sei und gottergeben bereiteten sie sich auf den Untergang des Schiffes vor. Ich tröstete beide und als man zwei Petroleumlampen ausfindig gemacht hatte, beruhigten sich die Passagiere.

Das Schiff wurde schneller flott, als wir erwartet hatten, und da es keine Beschädigung aufwies, konnten wir die Fahrt fortsetzen. Die Fahrt wäre für uns trotz des stürrnischen Wetters erträglich gewesen, wenn uns nicht die Sorge um unser Gepäck und die, dem "schwarzen Tode" entgegengehende Wäsche nicht die Laune verdorben haben würde. Am dritten Tage beschlossen wir, die dunkelweißen Manschetten der Oberhemden abzuschneiden, und um diesen Gewaltakt nicht zum Anlaß fauler Witze werden zu lassen, hielten wir bei Tisch die Hände möglich unter den Tisch. Über unsere fatale Lage trösteten uns die Erlebnisse mit unseren Reisegefährten.

Die Franzosen saßen an einem Tische für sich, aber ihre Gespräche konnten wir sehr gut hören und über ihre Witze konnten wir lachen, sofern sie nicht so schlecht waren, daß sich ein Lachen erübrigte. Beim Essen ging es so lebhaft zu, daß die Tischdecke deutliche Spuren der lebhaften Eßweise aufwies und der Tischsteward erklärte, den Herren eine Wachstuchdecke auflegen zu müssen. Aus allen Gesprächen hörten wir einen Satz heraus, und zwar "Pour nos femmes". Alles, was die Franzosen taten, taten sie für ihre Frauen. Sie hatten den Vertrag für New York für ihre Frauen gemacht, fuhren sieben Tage auf dem Meere für ihre Frauen, aßen, tranken, rauchten, sangen und spielten für ihre Frauen, kurzum, jede Tätigkeit geschah "pour nos femmes".

Wir griffen diesen Satz auf und wandten ihn bei jeder Gelegenheit an. Bald war er zum geflügelten Wort geworden und auch andere Passagiere bedienten sich dieses neugeprägten Schlagwortes. Germain, der Partner Verlindens, saß jeden Abend im Lichtschacht und sang. Er sang, aber niemand frage mich, wie und was. Jedenfalls waren viele Passagiere der Meinung, daß ein Verrückter auf dem Schiffe sei. Germain freute sich darüber, daß man ihn für verrückt hielt und sang weiter. Angesichts der Küste der neuen Welt stimmten die Franzosen in den Ruf "pour nos femmes" ein und froh, die Strapazen hinter sich zu haben, verließen sie das Schiff.

Auch wir waren froh, den alten Kasten verlassen zu können, aber unsere Sorge, was nun werden solle, war nicht gering. Unser erster Gang führte zur Schiffsgesellschaft, von der wir unser Gepäck verlangten. Man bedeutete uns, daß das Gepäck wahrscheinlich mit der "Savoie" nachkommen werde. Mit diesem wenig trostreichen Bescheid begaben wir uns in unser Hotel und dann in das Büro von Pat Powers. Der SechstageVeranstalter war in schlechter Laune: das Zollamt machte Schwierigkeiten, die Gepäckstücke der Fahrer herauszugeben. Erst als 5000 Francs hinterlegt worden waren, bekamen die Fahrer Gepäck und Räder.

Während sich Powers mit der Zollbehörde herumschlug, suchten wir nach einer Trainingsmöglichkeit und trieben nach langem Suchen zwei Hometrainer-Apparate auf. Ich benutzte eine Maschine, die mir der Amerikaner Fenn geliehen hatte und fuhr in meinem Straßenanzug. Lange trainierten wir nicht zu Hause. Wir begaben uns auf die Vailsburgbahn, wo eine solide Pumperei begann. Meinen Oberkörper bekleidete ein Trikot von Jimmy Moran, meine Beine steckten in einer Rennhose von Germain, auf dem Kopfe hatte ich eine Mütze von Kramer, an den Füßen Foglers Rennschuhe und auf einer Maschine von Fenn fuhr ich. Obwohl ich etwas kunterbunt aussah, machte ich mich passabler als mein Freund Stol, der in den ihm viel zu weiten Sachen wie ein Clown aussah.

John Stol, Niederlande

Foto: Göricke Fahrradwerke

Der Niederländer John Stol siegte als Partner von Walter Rütt
bei fünf Sechstagerennen.

Die Sache wäre gut gegangen, wenn unsere Wohltäter über mehr als ein Exemplar von Trikots, Hosen usw. verfügt hätten. So geschah es, daß Moran sein Trikot zurückverlangte, Fogler seine Schuhe haben wollte und Germain seine Beinbekleidung reklamierte. Nur die Mütze Kramers und das Rad Fenns konnte ich behalten, aber in diesem Aufzuge hätte ich unmöglich trainieren können, ohne das Schamgefühl gröblich zu verletzen. Kramer hatte mir bereits sein Maschinenmaterial angeboten, als der Bescheid kam, daß die "Savoie" eingelaufen sei und sich unser Gepäck an Bord befände.

Wir stürrnten sogleich zum Hafen und da uns das Heraussuchen des Gepäcks zu lange dauerte, machten wir uns selbst daran, mit Koffern und Kisten zu jonglieren. Endlich sahen wir unsere Sachen am Kran zum Licht emporschweben und wie zwei aus Seenot Gerettete verließen wir die Landungsstelle. Dies ereignete sich am Sonnabend mittag und an demselben Tage sollte ich ein Match gegen Kramer und Clark fahren. Meine Maschinen waren noch nicht hergerichtet und ich arbeitete bis zum Abend in meiner Kabine. Ich hörte draußen das Gemurmel der Menge, das Schreien der Enthusiasten, wenn sich einer ihrer Lieblinge sehen ließ, aber ich ließ mich nicht stören.

Plötzlich stürzte Pat Powers in meine Kabine und forderte mich auf, zum Start zu kommen. Ich zog mich schnell um, nahm mein Rad und stellte mich dem Starter. Obwohl ich gut trainiert war, konnte ich die Aufregungen der letzten Tage nicht niederkämpfen und ich mußte mich in beiden Läufen geschlagen bekennen. Meine Hoffnungen auf das Sechstage-Rennen sanken indessen nicht, und nachdem wir auch noch am Sonntag an unseren Rädern gearbeitet hatten, traten wir zurn Start an. Die ersten Tage verliefen ohne sonderliche Aufregung. Es wurde sehr schnell gefahren, aber wir lösten uns ganz präzise ab und kamen über alles hinweg.

Am meisten rieben sich die Franzosen auf und ich kann.sagen, daß mich namentlich Verlinden sehr enttäuscht hat. Ich habe die Belgier für einen guten Sechstage-Fahrer gehalten, aber er lebte nicht lange und der Schlachtruf "Por nos femmes" wurde immer seltener. Als Pouchois "in den letzten Zügen" lag und kaum noch auf dem Rade sitzen konnte, rief ich ihm zu "Pour nos femmes“, aber er reagierte nicht mehr darauf. Die Amerikaner hatten den Schlachtruf auch bald aufgeschnappt und ohne zu wissen, was er bedeutet, wandten sie ihn an. Jedesmal, wenn das Feld an dem Camp der Franzosen vorbeifuhr, erscholl der Ruf "Paur nau Fäm" und als Pouchois ganz tot war, gab ihm dieser Ruf das Grabgeleite zur Kabine.

Das erste Ereignis im Rennen war unser Verlust von zwei Runden. Über diesen Vorfall ist viel geschrieben worden, aber in keiner Zeitung war eine richtige Darstellung enthalten und wir sind dadurch in eine Lage gekommen, die namentlich auf Stol ein schlechtes Licht werfen könnte. Als die Jagd am Donnerstag morgen begann, hielten wir die Spitze. Plötzlich erlitt Clark Reifenschaden und schwankte so stark, daß er die Fahrer in Sturzgefahr brachte. Ich lief sofort auf die Bahn, da ich Stol in Gefahr wähnte und sah zu meinem Erstaunen, wie das Feld davonstürmte, ohne sich um Clarks Reifenschaden zu kümmern. In der Annahme, daß das Rennen abgeläutet werden würde, rief ich Stol zu, abzustoppen, was er auch sofort tat.

Die Ansicht, daß Stol meine Zeichen falsch verstanden hätte, ist also irrig. Er hat das befolgt, was ich ihm riet, auf reguläre Weise hätte er niemals zwei Runden verloren. Unser Erstaunen war groß, als am Stundenschluß angezeigt wurde, daß wir zwei Runden verloren hätten und Clark-Mac Farland um eine Runde zurückgefallen seien. Ich protestierte. Eine Antwort erhielt ich nicht, statt dessen kam Powers zu mir, um sich nach dem Vorgefallenen zu erkundigen. Ich erklärte, daß wir aufgeben würden, wenn man uns die Runden nicht wieder gutbrächte, worauf Powers mich bat, vorläufig im Rennen zu bleiben.

Was ich nicht verstehen konnte, war die ungerechte Behandlung der Mannschaft Mac Farland-Clark. Wir fuhren weiter, aber ich hatte wenig Hoffnung, die verlorenen Runden aufzuholen und ich gewöhnte mich an den Gedanken, das Rennen aufzugeben. Die Sache änderte sich schneller, als ich gedacht hatte. Mac Farland erschien in meiner Kabine, gab an, vollkommen erschöpft zu sein, wollte aufgeben und mir seinen Partner überlassen, mit dem ich mehr Aussicht haben sollte, die verlorenen Runden wiederaufzuholen, als mit Stol. Ich lehnte ab, da ich Stol nicht im Stich lassen konnte und ging auf die Bahn, um mich mit meinem Partner zu verständigen.

Stol, der von der Absicht Mac Farlands gehört hatte, erklärte mir, daß er mir nicht hinderlich sein wolle und aufgeben würde, da er sich nicht stark genug fühle, um den verlorenen Boden zurückzuerobern. Der Weg zu einer Vereinigung mit Clark war frei, und in einer halben Stunde war alles erledigt. Ich siedelte ins amerikanische Lage über und glaubte nun, mich vier Stunden ausruhen zu können, da in der Fahrordnung ein Passus vorgesehen ist, nach dem ein Fahrer, dessen Partner ausgeschieden ist, vier Stunden Zeit hat, einen neuen Partner zu bekommen.

Ich hatte mich geirrt. Die Amerikaner protestierten dagegen und ich mußte das Rennen ohne Ruhepause fortsetzen. Mir war es recht, die Pause von vier Stunden nicht eintreten zu lassen, aber im Interesse Clarks hätte ich davon gern Gebrauch gemacht. Der kleine Australier hatte in den vier Tagen viel fahren müssen, da Mac Farland nicht auf dem Posten gewesen war. Er erschien mir etwas angestrengt, doch als wir uns regelmäßig ablösten, kam er wieder zu Kräften und wir nahmen uns große Sachen vor. Für mich stand es fest, daß ich die Runden zurückgewinnen müsse, koste es was es wolle und auch Clark zeigte sich recht couragiert.

Wir verständigten Mac Farland, der nach einem kurzen Schlaf wieder auf der Bahn erschienen war, von unserem Vorhaben, und in aller Stille wurden die Vorbereitungen getroffen. Räder und Reifen wurden zurechtgelegt, saubereTrikots aus den Schränken geholt, Sauerstoffapparate aufgestellt und alles in Ordnung gebracht. Die Schlacht konnte beginnen. Mac Farland wollte sich in die Loge von Powers begeben und wir sollten in dem Moment, wo der Kalifornier die Hand auf die Brüstung fallen ließ, antreten. Ich blickte bei jeder Runde in die Loge hinauf, aber Macs Hand fiel nicht.

Plötzlich sahen wir Mac aufspringen und aus der Loge stürmen. Im gleichen Moment kamen aus allen Lagern die Manager mit neuen Trikots, Reifen, Rädern und anderen Utensilien hervor und zu unserem Erstaunen mußten wir die Wahrnehmung machen, daß unsere Gegner zur Abwehr gerüstet waren. Man hatte uns verraten, das war uns klar, aber von wem dieser Verrat verübt worden, wußten wir nicht. Als Clark mich ablöste, wollte ich mich in meine Kabine begeben, als ich Fluchen und Wehklagen vernahm. Ich trat hinzu und sah den langen Mac erbarmungslos auf einen unserer Trainer losboxen.

Mir tat der jämmerlich verhauene Trainer leid und ich rief Mac Farland an, der mir in höchster Erregung erzählte, daß unser eigener Trainer der Verräter gewesen sei und ihn die gerechte Strafe getroffen habe. Mac Farland konnte von seiner Loge beobachten, wie der Trainer sich in das Rennfahrerlager schlich und alle Fahrer mobil machte. Nun war mir auch das höhnische Grinsen der Amerikaner klar, als ich vom Rade gestiegen war. Der erste Versuch war durch den Verrat unseres Trainers gescheitert, aber wir ließen den Mut nicht sinken und stießen ohne lange Vorbereitungen vor.

Karikatur von Howard Freeman


Karikatur des ehemaligen Radrennfahrers Howard Freeman

Die amerikanischen Paare hielten zusammen. Sie unterstützten sich in der Abwehr unserer Angriffe. Aber diese Wahrnehmung konnte uns den Mut nicht nehmen, und wir gingen mit großen Hoffnungen in den neuen Tag. Mac Farland teilte mir mit, daß sich verschiedene "Bremser" im Felde befänden und ich auf der Hut sein sollte. Ich vertraute auf die Schiedsrichter, die bereits eine Runde, die durch Zusammenarbeit der Amerikaner an Root-Moran gefallen war, annulliert hatten und hielt mich hinter Fogler. Plötzlich hörte ich ein Schreien: als ich aufblickte, sah ich in Foglers grinsendes Gesicht. Bald bemerkte ich, daß Hehir und Root dem Felde davongelaufen waren, aber kein Fahrer Miene machte, sie zu verfolgen.

Es wurde kräftig gebremst, als ich nachgehen wollte und in fünf Runden waren Hehir und Root im Felde. Das Publikum lärmte und protestierte, Mac Farland ging zur Zielrichterloge, um für uns Protest gegen das Verhalten der Amerikaner einzulegen. Die Fahrer und Manager zogen den erhobenen Arm des "langen Mac" herunter, um den Protest zu verhindern, aber sobald sich der Kalifornier umdrehte und Boxer-Stellung einnahm, liefen sie davon. Clark löste mich ab und ich ging in meine Kabine. Als das Resultat bekanntgegeben wurde, war ich nicht wenig erstaunt, zu erfahren, daß wir noch eine Runde verloren hatten, also drei Runden zurücklagen. Mac Farland erklärte mir, daß der Protest gegen Root abgelehnt worden sei und wir uns in das Unvermeidliche fügen müßten.

Als wir noch darüber sprachen, kam Fogler, dessen Hinterrad ich während der Überrundung durch Root und Hehir gehalten hatte und sagte lachend: "Ich bin doch ein glücklicher Mensch, man überrundet mich, und ich bleibe doch in der Kopfgruppe. Mehr kann man nicht verlangen." Diese Worte des Amerikaners zeigten mir den Weg, den das Rennen gehen sollte und ich nahm mir vor, alles daran zu setzen, um diesen Weg zu kreuzen. Ich war wütend über die uns widerfahrene Ungerechtigkeit und schwor Rache. Eimal gewannen wir eine halbe Runde gegen die zweite Gruppe, aber im erstenmal stürzte Walthour und beim zweiten Vorstoß kamen Drobach, Fogler, Demara und Halstead zu Fall.

Bei der zweiten Jagd hatten wir bereits mehrere Paare überrundet, aber man erkannte unseren Rundengewinn nicht an und alle Arbeit war umsonst gewesen. Die Vorstöße hatten unsere Gegner indessen so mürbe gemacht, daß wir nachts um 1 Uhr die erste Runde zurückgewinnen konnten. Fünfundzwanzig Minuten lang hatten wir gefahren, was wir fahren konnten und niemals in meinem Leben habe ich Menschen so schreien hören, wie während dieser Zeit. Niemals in meinem Leben werde ich auch das Gesicht Morans vergessen, als er mich neben sich auftauchen sah. Er saß ganz in sich zusammengezogen auf seiner Maschine und empfing mich mit einem schrecklichen Schrei.

Ich hatte den Eindruck, als sei Moran erschöpft und ich feuerte Clark an, nicht nachzulassen. Wir ließen unseren Gegnern die ganze Nacht hindurch keine Ruhe und das Publikum wich nicht von seinem Platze. Um 5 Uhr morgens waren noch etwa 10.000 Menschen da, was in New York noch nie vorgekommen war. Wir ereichten unser Ziel, Root war bald so fertig, daß er kaum noch auf das Rad steigen konnte. Um 6 Uhr morgens, als Hill seinen Partner Fogler ablöste und Moran mit Fogler sprach, trat ich an. Ehe sich die Amerikaner klar wurden, was geschehen war, hatte ich das Feld ganz allein überrundet. Zehn Minuten später trat ich abermals an.

Diesmal gelang es mir nicht, das Feld allein zu überholen. Clark fuhr wie der Teufel, aber die wilde Jagd war hinter ihm her, und ich wollte bereits den Kampf aufgeben, als Clark einen Vorsprung errang. Nun jagten wir weiter, und Zoll um Zoll fiel uns zu, bis wir die dritte Runde aufgeholt und die Spitzengruppe erreicht hatten. Ich habe viele Jagden in meinem Leben mitgemacht, aber ich muß wohl sagen, daß die Jagd, bei der wir in zwanzig Minuten zwei Runden gewannen, die schwerste war, die ich jemals mitgefahren habe. Wir lagen nun in der Spitzengruppe und hatten Siegeschancen, aber ich glaubte, daß man uns keine Ruhe lassen werde. Die Gegner waren erschöpft, aber auch wir waren nur Menschen und Übermenschliches durften wir von uns nicht verlangen.

Die Niedergeschlagenheit der Amerikaner war größer, als ich gedacht hatte. Beim Vorüberfahren an dem Camp von Moran-Root hörte ich, wie der sonst nicht zu entmutigende Moran seinem Partner zurief: "Let us give up!" ("Wir wollen aufgeben!") Ich wußte, daß es sich um eine momentane Schwäche handelte, die jeden Sechstage-Fahrer befällt, und ich rechnete nicht damit, daß Moran aufgeben werde, jedoch war mir klar, daß die anderen Fahrer mürbe gemacht worden waren. Nach der Jagd trat Ruhe ein. Sobald ich auf die Bahn kam drängte sich irgendein Fahrer an mich heran, um mich über Germany zu befragen. Die Amerikaner hatten etwas von einem Sechstagerennen in Köln gehört und baten mich während des Rennens, sie den Veranstaltern des Rennens zu empfehlen.

Ich versprach zu tun, was ich tun könne, um die Quälgeister loszuwerden. Hill, der eine Stimme wie ein fünfjähriges Kind hat, wich lange Zeit nicht von meiner Seite und piepte mir die Ohren voll. Ich taufte ihn "Piepvogel" und bald riefen ihn seine Landsleute nur noch "Piepfaugel". Zu lachen gab es viel. Bekanntlich ist Collins sehr mager und die Zeitungen nannten ihn daher "the human hairpin", die lebende Haarnadel. Als Drobach von ihm abgelöst werden wollte, rief er in seine Kabine: "Where is Collins?", worauf Moran antwortete: "Er hat sich hinter der Luftpumpe versteckt."

Jack Clark, Australien

Foto: M. Rol, Paris

Der Australier Jack Clark
beim Training für das New Yorker Sechstagerennen.

Übrigens Drobach. Ich habe schon viele energische Fahrer gesehen, aber Drobach hat mich doch in Erstaunen versetzt. Der Deutschamerikaner ist ein gebildeter Mann und guter Fahrer, der als Sechstage-Renner nicht zu verachten ist, aber er hat Pech. Als er bei einer großen Jagd zu Fall kam, brach er sich das Schlüsselbein. Er war nicht zu bewegen, das Rennen aufzugeben, fuhr unter großen Schmergen weiter und wir nahmen Rücksicht auf ihn. Lange konnte dies aber nieht gehen, zumal Drobach nicht zu folgen vermochte, wenn ein Fahrer antrat, weil er mit dem verletzten Arm nicht an der Lenkstange anziehen konnte, um dem Pedalstoß Nachdruck zu verleihen.

Drobach wußte sich zu helfen. Er band sich einen Strick über den Rücken und befestigte diesen an die Lenkstange. Sobald er antreten mußte, drückte er den Rücken gegen den Strick und kam auch ganz gut mit, aber als er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, gab er auf. Eine sehr drollige Geschichte erzählte man mir während des Rennens. Als das Aufgeben Stols bekanntgeworden war, kamen einige junge Leute auf den Gedanken, sich bei den Kontrolleuren als Stol auszugeben, um freien Zutritt zu erlangen. Als sich fünf falsche Stols bei fünf verschiedenen Kontrolleuren durchgeschmuggelt hatten, gab Powers Order, keinen "Stol" mehr einzulassen.

Da erschien noch ein kleiner junger Mann am Eingang und bat um Einlaß. "Wie heißen Sie?" fragte der Kontrolleur. "Stol". "Was, Stol? Nun machen Sie aber, daß Sie fortkommen, Sie sind schon der sechste Stol. Auf den Schwindel fallen wir nicht mehr herein. Raus!" Der Kontrolleur nahm den jungen Mann beim Arm und warf ihn regelrecht hinaus. Im Bewußtsein, seine Pflicht getan zu haben, begab er sich auf seinen Platz zurück, ohne zu ahnen, daß er den echten Stol hinausgeworfen hatte, der keine Ahnung von dem Mißbrauch haben konnte, der mit seinem Namen getrieben worden war. Es blieb dem kleinen Holländer nichts anderes übrig, als sich ein Billet zu kaufen, um in die Halle zu gelangen.

In der ruhigen Zeit lernte ich meine Gegner näher kennen und ich muß sagen, daß ich unter ihnen ganz charmante Kerle gefunden habe. Bemerkenswert war das Eindringen der Australier als Sechstage-Renner, denn nicht weniger als fünf Australier befanden sich im Rennen und zwar: Hehir, Goullet, Clark, Pye und Walker, Von Hehir erzählte man mir tolle Geschichten. Ich hatte den Australier bereits während des Rennens als rücksichtslosen und verwegenen Fahrer kennengelernt, aber daß er sogar Frank Kramer und Fogler, zwei sehr geschickte Fahrer, zu Fall gebracht hatte, war mir neu. Als er einmal abgehängt worden war, arbeitete er sich mit einer atembeklemmenden Verwegenheit durch das Feld und erreichte die Spitzengruppe.

Auf der Vailsburg-Bahn war Fogler einmal durch Hehir gestürzt und in seiner Wut nahm Fogler das Rad und warf es, als Hehir spurtend aus der Kurve kam, nach diesem. Die Wirkung blieb aber aus, obwohl Foglers Wurfgeschoß traf, denn der außerordentlich sicher fahrende Australier sprang mit seinem Rade über die Maschine hinweg und wurde Zweiter. So vergingen die Stunden und das Ende des Rennens rückte näher. Ich hielt Rat mit Mac Farland. Ich sagte ihm, daß wir noch eine Runde gewinnen müßten, aber der "lange Mac" hegte Bedenken. Er glaubte, daß wir das Rennen nicht mehr verlieren könnten, wenn ich Clark schonte und ihm den Endspurt überließe. Ich protestierte dagegen, aber "Mac" überredete mich, Clark den Endspurt anzuvertrauen.

Ich fuhr von den letzten 12 Stunden wohl etwa neun Stunden, um meinen Partner zu schonen, machte aber dabei die überraschende Beobachtung, daß die Amerikaner immer frischer wurden. Mir war etwas schwer ums Herz, jedoch wagte ich keinen Vorstoß, um eine Runde zu gewinnen, weil mich der aus dem Schlaf geweckte Clark nicht nach Wunsch unterstützt haben würde. So nahte das Ende des schwersten meiner Sechstage-Rennen. Mir war nicht wohl zu Mute, als ich den kleinen Clark zum Entscheidungskampf antreten sah, aber Mac war seiner Sache sicher. Die junge Frau Clarks stand während der Entscheidung neben mir, und als sie sah, daß ihr Gatte von Root geschlagen wurde, fiel sie in Ohnmacht.

Medaille von Floyd MacFarland


Abbildung der Medaille, die Walter Rütt zur Erinnerung an das denkwürdige Sechstagerennen von Floyd Mac Farland erhalten hat.
Der Kopf der Katze spielt auf Rütts Spitznamen "Bearcat" an.

Ich wußte nicht, ob ich träumte oder wachte, aber es war leider Wirklichkeit und um eine herbe Enttäuschung reicher, verließ ich die von ohrenbetäubendem Lärm erfüllte Halle. Von den Strapazen des Rennens erholte ich mich sehr schwer. Ich konnte nicht in Amerika bleiben, weil das Weihnachtsfest vor der Tür stand und ich zu Hause einen kranken Sohn hatte. Stol erklärte mir, in Amerika bleiben zu wollen, um dort Startgelegenheit zu suchen und so begab ich mich allein zum Hafen. Als ich mich auf das Schiff begeben wollte, las ich an einer Tafel, daß der Dampfer "Kaiser Wilhelm der Große" auf der Fahrt nach Amerika eine Schraube verloren habe und die Rückreise mit einer Schraube antreten müsse.

Das war eine Enttäuschung mehr, denn ich lief Gefahr, nicht mehr rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach Deutschland kommen zu können. In der Hoffnung, daß alles gutgehen werde, vertraute ich mich dem invaliden Ozeanriesen an und mit einer anderthalbtägigen Verspätung erreichte ich nach sehr angenehmer Fahrt Bremen. Trotz der New Yorker Enttäuschung kann ich wohl sagen, daß ich nach meiner Rückkehr einer der glücklichsten Menschen war. Zum ersten Male nach langer Zeit habe ich in Deutschland unter einem deutschen Weihnachtsbaum gestanden und mich an dem schönsten Weihnachtsgeschenk erfreut, daß mir zuteil geworden ist: an der Genesung meines Sohnes Oskar von schwerer Krankheit.

Hinweis
Der Artikel stammt aus dem Buch "Sechs Tage auf dem Rade" von Fredy Budzinski. Der Text wurde ohne Korrekturen übernommen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde die Anzahl der Absätze gegenüber dem Originalabdruck vergrößert.

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