Prolog

Die schnellsten Menschen der Welt

Im späten Neunzehnten Jahrhundert spielte die Begeisterung für Sport bei vielen Menschen eine wichtige Rolle. Drei Disziplinen lagen dabei  in der Gunst ganz vorne: Boxen, Pferderennen und Radsport. Genauer gesagt: der Bahnradsport.

Europaweit, wie auch in Nordamerika und Australien, wurden Radrennbahnen aus dem Boden gestampft. Wenn die finanziellen Mittel dafür fehlten, improvisierte man gelegentlich durch das Planieren von Freiflächen, bei denen Aufschüttungen die Steilkurven ersetzten. Auch in Gebäuden errichteten Zimmerleute teils abenteuerlich anmutende Bahnkonstruktionen.

Als Fliegerrennen bezeichnete man zu jener Zeit die Wettbewerbe der Sprinter. In einer Epoche ohne Auto- und Flugverkehr im heutigen Sinn zählten die Flieger zu den schnellsten Menschen der Welt. Die besten von ihnen wurden Berufsfahrer, waren die Stars eines jungen und modernen Sports und hatten ihre Verehrer in allen Gesellschaftsschichten.

Radrennbahn Buffalo Paris 1908

Ihre Wettkämpfe wurden bereits Wochen vor der Austragung in der Presse sowie durch Plakataushang beworben und man sprach auf der Straße und in den Kneipen über mögliche Favoriten. Angereiste Fahrer wurden von den Fans schon am Bahnhof empfangen, ihre Quartiere belagert und kleine Jungen waren stolz, wenn sie die Reisetaschen ihrer Idole zur Rennbahn tragen durften.

Fliegerrennen waren Großereignisse und wo die Radarenen den Platz boten, kamen mehr als 20.000 Zuschauer. Wenn die Flieger ihre Rennmaschinen mit wuchtigen Tritten auf eine Geschwindigkeit jenseits der 60 Stundenkilometer beschleunigten, kannte die Begeisterung des Publikums keine Grenzen. Wenn der exzentrische Hannoveraner Willy Arend ein Match gegen den Franzosen Edmond Jacquelin austrug, war dies ein Ereignis, das die Sportnation bewegte.

Zeitungsanzeige für ein Fliegerrennen

Sechs Tage auf dem Rade

Ganz anders geartet als die Fliegerrennen, aber von gleichem Interesse beim sensationslüsternen Publikum waren die Sechstagerennen, die in keiner Weise vergleichbar waren mit denen der Gegenwart. Es waren echte und harte Ausdauerprüfungen über sechs volle Tage und Nächte und sie fanden unter Bedingungen statt, die man heutzutage für unzumutbar erklären würde.

Austragungstermin war der Winter, in den ungeheizten Hallen war es kaum wärmer als draußen und die Fahrer brachten kleine Öfen mit, die sie neben ihren Kojen aufstellten, um während der kurzen Pausen nicht zu "erfrieren". Neben der Pritsche hatten sie einen Sauerstoffapparat stehen, um  wenigstens ab und zu etwas reine Luft zu inhalieren. Tabakrauch lag in dichten Schwaden über der Rennbahn, reizte die Augen und erschwerte die Atmung erheblich.

Sowohl bei den Fliegern als auch bei den Sechstagefahrern zählten einige Akteure zur absoluten Spitze, in beiden Diszipinen zu glänzen war fast unmöglich. Dem Protagonisten dieser Seiten ist es gelungen, sich sowohl mit dem Titel des Fliegerweltmeisters zu schmücken, als auch mit dem eines Champions der Sechstagerennen. Seine Geschichte ist die vom Aufstieg und Erfolg, von Ansehen und Reichtum, aber es ist auch die von der Vergänglichkeit des Ruhmes und die der Armut. Es ist die Geschichte von Walter Rütt.

Pressefoto vom 5. Berliner Sechstagerennen


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