Der Niedergang des deutschen Radrennsports

Von Walter Rütt

Es gibt wohl kaum größere Gegensätze wie den deutschen und französischen Radsport. Nach allgemeiner Ansicht sind es gerade diese beiden Nationen, die in demselben führen und da es wenige Fachleute geben dürfte, die Kenner beider Länder in dieser Hinsicht in dem Maße sind wie ich, so glaube ich mir in vielen Punkten schon ein Urteil anmaßen zu können. Dies sei vorausgeschickt um einige nachstehende Angriffe auf die Art des deutschen Radrennsports zu rechtfertigen.

Man schwärmt in den Fachkreisen des Radsports so gern von der guten alten Zeit. Damals, wo ein Willy Arend noch Weltruf hatte, und mit dem jetzt noch tüchtigen Ellegaard und Major Taylor sensationelle Rennen ausfocht. Zweifellos hatten die damaligen Rennen eine verhältnismäßig größere Zugkraft wie unsere heutigen ungezählten "Meisterschaften", "Großen Preise", "Goldenen Räder" usw. Der Grund dazu liegt auf der Hand.

Man hält mich vielleicht für einseitig, oder, da ich Flieger bin, für einen Geschäftsmann, wenn ich sage: Der Niedergang des deutschen Radrennsports - und von solchem ist zweifelsohne zu sprechen - hat eingesetzt, seitdem die Rennen mit Motorschrittmacher eingeführt wurden. Dies klingt zwar paradox, ist aber doch eine absolute Tatsache.

Schon höre ich dagegen einwenden, daß seit den Motorrennen die Bahnen wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Diese Tatsache will ich auch gar nicht wegleugnen, im Gegenteil! Ich unterstreiche sogar, daß die Verbreitung seit Einführung der Motorrennen ungeheuer groß wurde. Das war kein Anwachsen unter normalen Verhältnissen, das war Treibhausluft! Doch damit nicht genug, es läßt sich ja sonst jedes Unglück reparieren, warum hätte sich der durch die Motorrennen zurückgedrängte Fliegersport nicht auch wieder zur Geltung bringen lassen? Hier lag jedoch ein unüberwindbares Hindernis und das ist die Art und Weise, mit der die deutschen Bahnen angelegt sind.

Sämtliche Bahnen in Frankreich sind auf Fliegerrennen zugeschnitten, sämtliche Bahnen in Deutschland auf Motorrennen. Bahnen, wie z.B. Köln, Dresden, Leipzig, gestatten einfach keine reellen Fliegerrennen. Genau so, wie man in Frankreich nie so gute Motorrennen sehen wird wie in Deutschland, genau so kann Deutschland nicht die erstklassigen Fliegerrennen Frankreichs zu sehen bekommen, die meiner Ansicht nach auch das Idealste des Radsports überhaupt darstellen.

Geht man auf die Uranfänge des Radsports zurück, so greift man damit gleichzeitig selbstverständlich zum Fliegersport, die Steherrennen hinter Motoren sind nur eine ungesunde Abart der Dauerrennen, wie sie früher üblich waren mit Radschrittmachern. Doch verfolgen wir die Entwicklung oder richtiger gesagt, die Verwicklung des deutschen Radsports weiter. Überall wo Konzessionen zu bekommen waren, entstanden in Deutschland große Zement-Rennbahnen.

In Deutschland gibt es etwa 40 Städte über 100 000 Einwohner, dagegen in Frankreich nur etwa 15. Seitdem die Motorrennen nun einmal unglücklicherweise eingeführt waren, sahen sich alle anderen Rennbahnbesitzer gezwungen, auch dieselben mehr zu protegieren, die, wenn die Bahn große Schnelligkeiten erlaubt, auch vom Publikum verlangt werden. Die Motorrennen boten eben stärkeren Reiz und brachten in den Kampf ein gewisses   lebensgefährliches Moment, das, die Zuschauer angenehm berührend, immer mehr zum Dauerrennen hinzog. Wenn die Fliegerrennen noch beibehalten wurden, so war das mehr um das Programm auszufüllen und die alten Traditionen nicht ganz zu ersticken. Nach diesen Prinzipien baute sich dann das ganze Leben des deutschen Radsports immer mehr und mehr aus.

Noch ein anderes, weit traurigeres Moment, das die Fliegerrennen endlich auf deutschen Bahnen wieder etwas aufstehen ließ, waren die Unglücksfälle, die sich bei den Steherrennen hinter Motoren ereigneten. Ich erinnere mich noch ganz genau, als die ersten Motorrennen gefahren wurden und auch sofort die ersten Opfer an Menschenleben kosteten. Es wäre wohl nicht zweckentsprechend, wenn ich eine Liste aufstellen wollte von den vielen Rennfahrern, die ihr Leben durch diese Abart - sagen wir besser Unart - des Radsports haben lassen müssen. Es wäre das im Interesse des Radsports nicht schön gehandelt, da der Laie geneigt ist, alles in einen Topf zu werfen. Tatsächlich hat der Motorradrennsport mit dem eigentlichen Radfahren als Sport nichts gemein.

So will ich nur hier anführen, daß fast alle Dauerfahrer nach langen Rennen hinter Motoren sehr geringe Zeichen irgendwelcher Ermattung zeigen. Nicht etwa daß sie so gut trainiert waren, oder so fabelhaft veranlagt - es ist eine Unmöglichkeit, eine wirklich große Sportleistung so zu absolvieren, daß der Körper kaum etwas davon merkt. Daraus folgt, daß die Steherrennen auch in dieser Hinsicht keinen großen sportlichen Wert haben, denn das Publikum soll doch auf die Rennbahn gehen, um große körperliche Leistungen bewundern zu können, die von Menschen aufgestellt werden, die eine seltene Begabung dafür haben! Das ist doch das, was im Sport überhaupt so bewundert wird!

Was bleibt also von den Rennen hinter Motorschrittmachern an guten Eigenschaften übrig? Ich antworte ebenso offen wie kurz gesagt: nichts. Abgesehen davon, daß sie eine ungesunde Spekulation auf die Nerven der Zuschauer sind, sind auch die Steherrennen von anderen Gesichtspunkten aus betrachtet, sehr unheilvoll gewesen.

Walter Rütt auf Position 1


Walter Rütt auf Position Eins
bei seiner ersten und einzigen Teilnahme an einem Steherrennen

Vielleicht ist es von mir unrecht, daß ich hier so offensichtlich schreibe, aber ich hoffe damit dem an sich als Sport wirklich idealen Radfahren zu nützen. Wir stehen zurzeit hier in Deutschland ganz im Zeichen des Radrennsports hinter Motoren. Die vielen Rennfahrer, die als Flieger starten, haben aus diesem Grunde ein äußerst schweres Leben. Das gilt wenigstens von der großen Mehrzahl, denn selbstverständlich scheiden von dieser Behauptung die großen Cracks, die ihre ständigen Engagements haben, aus.

Das aktive Interesse am Radsport ist hierzulande ungemein groß und es ist wirklich oft Idealismus, wenn ein gesunder junger Mann so viel Veranlagung in sich fühlt, daß er das große Wagnis unternimmt, seinen Beruf an den Nagel hängt und das Trikot anzieht, um künftig von den Einnahmen seiner Sportsleistungen zu leben. Und wie enttäuscht werden die meisten.

Nun sagte ich vorhin, daß es in Deutschland allenthalben Rennbahnen gibt. Das ist schon richtig, aber jede Direktion wird als Hauptrennen einige Konkurrenzen hinter Motoren veranstalten. Die Motorrennen schließen aber eine größere Teilnehmerzahl als höchstens 5 Konkurrenten vollständig aus, und das aus verschiedenen Gründen. Erstens würde die Polizei wegen zu großer Gefährlichkeit ihr Veto einlegen, wollte man mehr wie 5 Fahrer gleichzeitig konkurrieren lassen, und dann erfordern die Verhältnisse für die Dauerfahrer so hohe Honorare, daß der Rennbahnbesitzer schon sehr zu rechnen hat, will er trotz eines gut besetzten Hauses auf seine Kosten kommen.

Die Dauerfahrer wiederhin haben einen derartig großen Apparat immer mit sich herumzuschleppen, daß sie es beim besten Willen nicht billiger machen können. Selbstverständlich bleibt ihnen immer noch ein unverhältnismäßig hoher Verdienst, doch es ist ja gar nicht zu verdenken, wenn man dabei in Berechnung zieht, daß die Dauerfahrer bei jedem Rennen und bei jedem Training (also täglich!) ihr Leben aus Spiel setzen.

Nun könnte man zu den Fliegern sagen: "Gehet hin und tuet desgleichen, werdet Dauerfahrer!" Das ist schon leicht gesagt, aber erstens hat nicht jeder Lust, alle Augenblicke sein Genick zu riskieren, oder man ist mit ästhetischem Gefühl begabt und hat gegen die Motorrennen eine unüberwindliche Abneigung. Daher das teilweise soziale Elend unserer Rennfahrer und daher die ungünstige Beleuchtung, in der dieser an sich ebenso schwere wie faire Beruf steht. Es ist sogar schon soweit gekommen, daß man sich manchmal schämen muß, zu den Rennfahrern zu zählen.

Die vielen Engagementlosen oder nicht erfolgreichen Kollegen müssen sich eben schlecht und recht durchhauen, und daß dabei einmal dieser oder jener, der bisher ein recht guter achtbarer Mensch war, eine Dummheit macht, ist ja schließlich eine erklärliche Sache, die nicht einmal Privilegium des Radrennsports ist. Wer nicht wagt, gewinnt nicht, und man wagt etwas, indem man zu einem Betrug übergeht, der nur Lohn verspricht, wenn man besser ist wie die anderen die ja auch mit den selben Siegesabsichten in den Kampf, der für sie Lebenskampf ist, gegangen sind. Es ist nun einmal ein va banque-Spiel, und ich rate niemandem, leichtsinnig seinen Beruf wegzuwerfen, um den Träumen, in denen er sich schon als berühmter Rennfahrer sieht, nachzugehen.

Walter Rütt am Start zum Steherrennen

Foto: Illustrierter Radrennsport

Walter Rütt versuchte sich auch als Steher, es blieb aber bei dem einen Mal.

Nun will ich diesen Ausführungen die Zustände des französischen Radsports gegenüberstellen. Ich resümiere im voraus: sie sind erheblich besser. Das hat folgenden Grund: Als der Radsport anfing, populär zu werden, baute man in Frankreich viele Bahnen, selbst in Städten mit etwa 10 000 Einwohnern, welche fast alle noch heute existieren. Diese Bahnen lassen die abnormen Geschwindigkeiten eines Rennens hinrer Motoren nicht zu, und darum waren die ersten Versuche, die seinerzeit angestellt wurden, um die Steherrennen dort einzuführen, auf keinen Fall ermutigend.

Gewiß haben wir jetzt auch in Frankreich diese Rennen , wenn auch nur in Paris; seine Söhne stehen sogar im internationalen Radsport als Vertreter der Dauerrennen mit obenan. (z.B. Séres Guignard, Parent, Darragon usw.) aber sie haben sich ihre Hauptlorbeeren doch außerhalb der Trikolore holen müssen. Daß man dort auch weiterhin Verständnis für die Fliegerrennen fand, ist damit zu beweisen, daß die nachfolgenden Bahnen genau nach dem alten Muster gebaut wurden. Ich könnte 25 Bahnen angeben, wo ich während meiner vierjährigen Abwesentheit aus Deutschland Fliegerrennen bestritten habe, und alles Bahnen, welche ich in jeder Hinsicht über verbaute Bahnen wie Köln, Dresden usw. stelle.

Das hat als weitere erfreuliche Konsequenz ergeben, daß in Frankreich in jeder kleinen Stadt eine Rennbahn errichtet werden kann, und sich doch rentiert, denn der Flieger stellt lange nicht die Ansprüche wie der Dauerfahrer mit seinem umfangreichen Schrittmacher-Apparat. Auf diese Art und Weise ist in Frankreich in jedem kleinen Nest der Radsport im besten Sinn des Wortes eingebürgert, aus diesem Grunde wird man von Unfällen beim französischen Rennen kaum etwas hören, aus diesem Grunde hat Frankreich eine so große Zahl hervorragender Vertreter aufzuweisen. Darum kennt man auch das soziale Elend der Rennfahrer in Frankreich nicht!

Jeder hat seine laufende Engagements, denn die vielen Bahnen wollen besetzt sein und wenn die Rennen sich im wesentlichen dort wiederholen, sie finden doch jederzeit ihr dankbares und gutzahlendes Publikum, denn das findet dabei wirklichen Sport, d.h. eine gesunde Anregung. Die schönen Schlußkämpfe, die man bei französischen Bahnen sieht, sind in Deutschland kaum zu finden. So erklärt sich auch die Begeisterung, mit der man da drüben jeden erstklassigen Fahrer begrüßt. Ein Poulain, ein Friol, der jetzt verschwundene Jacquelin sind in Frankreich populäre Persönlichkeiten. Das Volk verehrt diese Leute als Blüte ihrer Nation und hält sie als solche hoch. Hier in Deutschland rechnet man den Radrennfahrer zur niedrigen Gesellschaftsklasse.

Ich freue mich, jetzt wieder in Deutschland fahren zu können. Man ist gezwungen, mir gute Gegner gegenüberzustellen und - da der Rennbahnbetreiber ja rechnen muß - kann er aus diesen Gründen nicht so viele Preise und und Honorare auf die Dauerrennen verwenden. Ich will damit gar nicht die Dauerrennen an sich ausscheiden.

Das wäre so das Wichtigste, was über den Grund des seit einiger Zeit bemerkbaren Niedergang des deutschen Radrennsports zu schreiben wäre. Das derselbe tatsächlich vorhanden ist, erhellt schon daraus, daß z.B. in Berlin im letzten Jahre 2 Rennbahnen abgebrochen worden sind und die beiden anderen lange nicht mehr die Frequenz aufweisen können wie früher. Es ist nun einmal eine Umwälzung, die sich nie ohne Begleitumstände vollzieht. Daß dieselben für die Rennbahnbesitzer etwas schmerzlich sein mögen, will ich gar nicht bezweifeln, aber doch glaube ich hoffen zu können, daß der Umschwung zu einer Gesundung der deutschen Radrennsport-Verhältnisse führt und der wahre Radrennsport nach und nach wieder voll zur Geltung kommt.

Zu wünschen wäre es wirklich, nicht nur im Interesse der Bahnbesitzer und Rennfahrer, sondern im Interesse des ganzen deutschen Volkes, das durch den jetzt noch immer vorherrschenden Pferdesport nur degeneriert, werden, aber nie profitieren kann. Wenn meine Zeilen etwas helfen können, will ich es nicht bereuen, auch einmal die Feder in die Hand genommen zu haben.

Hinweis:
Der Artikel erschien 1910 im Magazin "Zeit im Bild", Ausgabe 25. Der Text wurde ohne Korrekturen übernommen.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde die Anzahl der Absätze gegenüber dem Originalabdruck vergrößert.

 

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