Sechstage-Zahlen
Von Walter Rütt
Wenn ich es nicht vorzöge, nach meiner 25jährigen Rennfahrer-Laufbahn nunmehr unter die sportlichen Leiter zu gehen, so hätte ich in diesem Winter mein 25. Sechstagerennen fahren und feiern können. Die Australier Goullet und Mac Namara haben, da während des Krieges die "Six Days" in Amerika lustig weiterflorierten, eine weit höhere Zahl von Sechstagerennen hinter sich bringen können; der Schweizer Egg hat auch schon 26 in seinen Beinen und der kleine Franzose Brocco, der in Amerika übrigens stets als Italiener ausgegeben wird, um der riesigen italienischen Kolonie in New York entgegenzukommen, hat es sogar auf 35 gebracht.
In meinen 24 Sechstagerennen habe ich natürlich so manches erlebt und gesehen und mir über vieles Gedanken machen können, woran der simple Zuschauer wohl kaum denkt. Viel Interessantes geht hinter den Kulissen eines Sechstagerennens vor und einiges davon will ich hier erzählen, hauptsächlich allerdings Zahlen. Zahlen haben immer etwas Trockenes, aber meine "Sechstage-Zahlen" machen das zum Teil durch ihre Erstaunlichkeit wett. Dazu kommt noch, dass ein Sechstagerennen heutzutage geradezu ein volkswirtschaftlicher Faktor geworden ist, der nicht nur den Rennfahrern und Unternehmern, sondern auch vielen Industriezweigen, dem Kleinhandel, dem Transport- und Verkehrswesen Beschäftigung und Verdienst bringt.
Nun kommen wir erst zu den eigentlichen Akteuren, den Rennfahrern. Nehmen wir an, das Rennen werde von 14 Mannschaften, also 28 Fahrern, bestritten. Diese benötigen je zwei Pfleger, das sind 56 und jede Mannschaft einen Laufjungen, macht weitere 14 Personen; ferner sind erforderlich: zwei Ärzte, zwei Heilgehilfen, ein Wettfahrausschuss, der meist aus 30 Herren besteht, wobei Fahrbeobachter und Rundenzähler mitgerechnet sind, ein Sprecher, ein sportlicher und ein technischer Leiter, fünf Personen Büropersonal, ein Fahrradschlosser, zwei Friseure, drei Tafelschreiber usw. Und nun können wir einige phantastische Ziffern aufmarschieren lassen.
Was führen die Sechstagefahrer während der 144-Stunden-Jagd ihrem Magen zu? Nach meinen vieljährigen Erfahrungen werden konsumiert: etwa 2520 Eier, 1300 Hammelkotelettes, 600 Steaks, 60 Pfund feinste Fruchtkonserven, 144 Zitronen, 600 bis 1000 Apfelsinen, 400 Liter Milch, etwa 700 große Flaschen Mineralwasser, 350 Pfund Äpfel und dazu noch viele Pfund Kaffee, Tee, Haferflocken, Reis, Kakao, Backobst und Gemüse. An Medikamenten und sonstigen Hilfsmitteln benötigen die Fahrer: Kopfwasser, Augenwasser, Schwämme, Vaseline, Puder, Öle, Massagemittel, Alkohol, Äther, Sauerstoff, Leukoplast, Verbandszeug und Pflaster, Salben, ferner für ihre Kojen Matratzen, Decken, Handtücher, Geschirr, Eimer, für die Räder Schellack, Fahrradöle, Pedalriemen, für sich selbst Trikots, Brust- und Knieschützer, elektrische Hilfsmittel, elektrische Kissen, Heißluftapparate, Vibrationsmassageapparate und dergleichen mehr.
Zu einem Sechstagerennen gehört in erster Linie auch eine Bahn, zu deren Errichtung außer vielem Geld ein Architekt, eine Anzahl von Holzhandlungen, Fuhrgeschäften sowie mindestens 30 Zimmerleute und 60 Hilfsarbeiter erforderlich sind.
Für die Veranstaltung selbst sind außerdem noch sechs Maler, vier Elektrotechniker, mindestens 150 Kontrolleure, zwei Hundertschaften Schupo außer dem ständigen Polizeiaufgebot, 15 Kartenverkäuferinnen, ein Heer von Scheuerfrauen und 30 Musiker nötig. Die Presseberichterstatter rücken mit Verstärkung an; in lebhaften Stunden befinden sich 30 bis 40 Herren auf der Pressetribüne, in Amerika sind sie fast durchweg mit Fernschreibern ausgerüstet. Dazu kommen noch Zeichner, Photographen, Transparentschreiber, Zeitungs-, Zigaretten- und Schokoladenverkäufer, Garderobenfrauen, Heizer und andere Haushandwerker. Für den Restaurationsbetrieb werden 80 bis 100 Kellner, 15 Köche, 40 Hilfsarbeiter und 21 Hilfsarbeiterinnen gebraucht, nicht zu vergessen die Bardamen, die von der Galerie stets mit dem berühmten "Ah!" begrüßt werden.
In den Jahren 1926 - 1928 fungierte Walter Rütt, unterstützt von Erich Kroner,
als sportlicher Leiter beim Berliner Sechstagerennen.
Jeder Fahrer muss drei komplette bereifte Maschinen zur Verfügung haben, bei 28 Fahrern sind das 84 Maschinen. Für jedes Rad ist noch ein kompletter Satz Reserve-Einzelräder erforderlich, so dass im ganzen 336 Einzelräder mit Reifen vorhanden sein müssen. Der Wert der 84 Rennmaschinen beläuft sich einschließlich Reifen auf etwa 17 000 Mark.
Im Sechstagerennen wird durchschnittlich eine Strecke von 4000 Kilometern bewältigt, bei einer Bahnlänge von 160 Metern, wie sie im Berliner Sportpalast vorhanden ist, macht das 24 000 Runden.
Bei der üblichen Übersetzung legt der Fahrer bei einem beiderseitigen Tritt ca. 7 Meter zurück, braucht also für eine Runde 46 Einzeltritte. Jede Mannschaft tritt also in den 24.000 Runden 1.140.000 Mal, jeder Fahrer demnach 552.000 Mal. Über eine halbe Million Pedaltritte! Würde man diese 4000 Kilometer eines Sechstagerennens in einer Richtung fahren, dann würde man nach Norden bis zum Nordpol, nach Süden bis nach Dahome in Afrika, nach Osten bis Tomsk in Sibirien und nach Westen bis zur nordamerikanischen Küste gelangen.
Nun noch etwas über die Kosten einer Sechstage-Veranstaltung. Abgesehen von dem Aufbau der Bahn, allein an Tagegeldern für die Rennfahrer für sämtliche sechs Tage, sind 130 000 bis 150 000 Mark erforderlich, wobei sich die Tagesgagen zwischen 400 und 1200 Mark bewegen. Dazu kommen noch die besonders ausgesetzten Preise für die Sieger und Platzierten, Überrundungsprämien, Reise- und Transportkosten der ausländischen Teilnehmer, die auf Eisenbahnen und Schiffen kommen. Dafür belaufen sich die Nebenspesen manchmal auf viele tausend Mark, nicht gerechnet die zahlreichen "Publikums-Prämien" deren Wert in manchen Rennen 30.000 Mark übersteigt.
Gerade in den Publikums-Prämien, seien es Bargeldpreise oder Sachwerte, liegt eine große Verdienstmöglichkeit für tüchtige Prämienspurter. Natürlich hängt die Anzahl und Höhe der Prämien jeweils von der allgemeinen Geschäftslage ab und so bleibt in schlechten Zeiten, wenn ein überlegener Prämienjäger im Rennen ist, für die anderen nicht allzu viel übrig.
Mir fiel zum Beispiel beim vorletzten Kaiserdamm-Rennen alles in allem eine Kiste Zigarren im Werte von 7,50 Mark zu; aber ich habe in meiner großen Zeit auch viele wertvolle und kostbare Prämien nach Hause fahren können. Mein schönster Preis ist eine vom ehemaligen Kronprinzen für einen Spurt ausgesetzte Brillantnadel, die ich seinerzeit im Kampfe gegen die besten Ausländer, Amerikaner und Franzosen und gegen die damaligen besten deutschen Sprinter gewinnen konnte.
Hinweis
Der Artikel erschien 1925 im Magazin "Illustrierter Radrennsport". Der Text wurde ohne Korrekturen übernommen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde die Anzahl der Absätze gegenüber dem Originalabdruck erhöht.
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