Biographie
Am 29. September 1901 berichtete die Zeitschrift "La Vie Au Grand Air", Frankreichs führendes Sportmagazin, in einem mehrseitigen Artikel über den "Grand Prix Cycliste", das prestigeträchtige Fliegerrennen in Paris. Das Titelbild zeigte die Teilnehmer des Endlaufs mit dem Sieger Thorvald Ellegaard sowie dem Dritten Willy Arend. Der Zweitplatzierte, deutlich jünger erscheinend als seine Konkurrenten und etwas schüchtern in die Kamera blickend, stand zum ersten Mal in seinem Leben auf der ganz großen Bühne des Radsports. Sein Name, den außerhalb Deutschlands bislang nur die Wenigsten kannten: Walter Rütt.
In Morsbach, einer kleinen Gemeinde der Stadt Würselen, unweit von Aachen, erblickte Walter Rütt am 12. September 1883 das Licht der Welt. Sein Vater Heinrich war zu dieser Zeit Bahnhofsvorsteher, seine Mutter Caroline, geborene Hünking, kümmerte sich um den Haushalt.
In den ersten Lebensjahren durchlitt Walter einige schwere Krankheiten, die ihn in seiner körperlichen Entwicklung zunächst etwas beeinträchtigten. Auf ärztliches Anraten begann er, Rad zu fahren und entwickelte dabei bald eine überdurchschnittliche Stärke.
Ein Naturtalent
1899 unterhielt Heinrich Rütt in Köln eine Gastwirtschaft, in der regelmäßig zwei Radsportvereine tagten. Diese beschlossen im Herbst desselben Jahres, ein Radrennen von Köln nach Neuss und zurück ins Leben zu rufen. Heinrich Rütt, der wusste, was er seinen Stammgästen schuldig war, stiftete für dieses Rennen als Ehrenpreis eine Uhr.
Am Morgen der Veranstaltung schlich sich Walter schon früh aus dem Haus, um den Start des Ereignisses anzuschauen. Er beschloss, den etwa 30 Teilnehmern auf seinem Tourenrad ein Stück zu folgen und diese wunderten sich bald, dass der Sechzehnjährige offenbar keine Mühe hatte, den Anschluss zu halten.
Während die Rennfahrer am Wendepunkt in Neuss ihre Meldezettel abgaben, klopfte Walter mit der Hand auf den Tisch des Kontrollpostens und folgte weiter der Spitzengruppe, die sich auf sechs Fahrer dezimiert hatte.
Als in der Ferne die Türme des Kölner Doms auftauchten, entschied er in jugendlicher Naivität und ohne sich der Tragweite seines Handelns bewusst zu sein, vorzufahren und den wartenden Zuschauern von der baldigen Ankunft der Fahrer zu berichten.
Foto: Album von Peter Rütt
Das einzig bekannte Foto aus Walter Rütts Kindheit ist
diese Studioaufnahme mit seiner Schwester Adele.
Tatsächlich erreichte er als Erster das Ziel, sprang vom Rad und erhielt eine schallende Ohrfeige von seinem Vater, der den „Bengel“ vermisst hatte. Nun schritt der Veranstalter ein und erklärte Heinrich Rütt den Sachverhalt. Die in diesem Moment ankommenden Amateure mussten neidlos anerkennen, welche Schlappe sie sich geleistet hatten.
Zuhause schwieg man besser über den Vorfall, denn Caroline Rütt war auf solchen „Firlefanz“ nicht gut zu sprechen. Sie fürchtete, ihr Sohn würde als Rennfahrer an Schwindsucht erkranken oder auf einer Rennbahn zu Tode stürzen. Walter war zu dieser Zeit als Volontär in einer großen Firma tätig und sollte nach dem Willen der Eltern am Technikum von Mittweida Maschinenbau studieren.
So absolvierte er anfänglich Amateurrennen nur mit Wissen des Vaters und legte den ersten errungenen Preis, einen kunstvoll gestalteten Zinnbecher, aus Angst vor Strafe in einen Schuhkarton, den er unter den Stachelbeersträuchern im heimischen Garten vergrub.
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